Reisetagebuch

Mittwoch, 04. Juni; Der erste Tag: Ankunft, Universitätsbibliothek, Integrations- und Kennenlernparty

Voller Tatendrang und Motivation traf sich die Gruppe morgens um 6:30 Uhr im Warszawa-Express. Nach anfänglichen Platzproblemen im Zug, durch eine teilweise Doppelbelegung der Bahn verursacht, hatten doch spätestens in Frankfurt/Oder alle Teilnehmer einen Platz gefunden. Die sechsstündige Bahnfahrt bot die ideale Möglichkeit für ein intensiveres Kennenlernen und für erste Lektionen der polnischen Sprache. Am Warschauer Hauptbahnhof wurden wir von den polnischen Teilnehmern der Gruppe erwartet.

Nach einem kurzen Zwischenstopp im Hotel machten wir uns auf zum ersten Termin: der Besichtigung der Warschauer Universitätsbibliothek. Die außergewöhnliche Architektur dieser Bibliothek versetzte uns deutsche Studenten in großes Staunen und Bewunderung. Das recht komplexe Gebäude beherbergt im ersten und zweiten Geschoss die Bibliothek, auf der Hinterseite schließen sich große Parkflächen an. Am meisten hat uns der Rundgang durch den botanischen Dachgarten, über den Dächern von Warschau, beeindruckt.

Nach diesem Spaziergang trafen wir uns im Kellergeschoss des Hauses, wo sich neben Geschäften auch eine Bowlingbahn befand, zur „Integrations- und Kennenlernparty“. Bei einem ersten deutsch-polnischen Abendessen stärkten wir uns für das anschließende Bowling-Turnier. Mit Sport und Spaß erlebten wir gemeinsam den ersten von vielen schönen Abenden, die reichlich Platz für interessante Gespräche boten.

Nach dem Bowling-Turnier, bei dem es nur Gewinner gab, setzten wir uns noch auf ein Bier in ein Biergarten-Schiff am Ufer der Wisla. Schnell entwickelten sich tiefe und ernste Gespräche in der Gruppe. Wir hörten u.a. von den polnischen Studenten, dass die Polen zum Teil heute noch Angst davor haben, dass die Deutschen Breslau und Danzig für deutsch halten und Ansprüche auf diese Gebiete erheben könnten.

Die polnischen Studenten interessierten sich dafür, was wir Deutschen über Auschwitz denken und was die deutsche „Erinnerungskultur“ ist: „Warum machen die Deutschen das, warum können sie nicht vergessen?“ Eine sehr prägnante und klare deutsche Antwort lautete: „Es war so schlimm, dass wir uns heute noch verantwortlich fühlen und Verantwortung übernehmen wollen.“ Eine polnische Teilnehmerin machte ein Dilemma in diesem Kontext deutlich: das unterschiedliche Empfinden der Generationen. Während die heutige Generation sich fragt: „Warum waren wir Polen damals so schwach?“ rechtfertigt sich die Älteren, indem sie beteuern: „Wir waren die Opfer übermächtiger Gegner.“ In der Diskussion über die Wahrnehmung der Polen in Deutschland und umgekehrt wurden Unterschiede in der Verarbeitung der Geschichte in Polen und Deutschland deutlich, z.B. sprechen die Polen über viele Themen nicht öffentlich. Auf beiden Seiten zeigte sich, wie verbreitet offenbar Vorurteile und Stereotypen heute noch sind, wie tief diese im Bewusstsein und Alltag der Menschen verwurzelt zu sein scheinen.

Donnerstag, 05. Juni, 13h, Goethe-Institut im Kulturpalast;Gespräch mit Dr. Herbert Quelle, Wirtschaftsattaché der Deutschen Botschaft in Warschau

In seinem Vortrag stellte der Wirtschaftsattachés der deutschen Botschaft in Polen, Dr. Herbert Quelle, die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen dar. Dabei machte er deutlich, dass es für Polen wirtschaftlich keine andere Alternative zum Beitritt zur EU gibt. Zwar hatte Polen in den frühen 90er Jahren ein hohes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, dieses ist aber im laufenden Jahr auf 2,5% gesunken. Ohne den EU-Beitritt würde sich diese Talfahrt noch weiter fortsetzen. Es sind jedoch noch große Anstrengungen nötig, um das wirtschaftliche Niveau der EU-Mitgliedstaaten zu erreichen. Dr. Quelle machte deutlich, dass zur Verwirklichung dieses Ziels das Wirtschaftswachstum in den nächsten 25 Jahren stabil 5% betragen müsste.

Das größte momentane Problem der polnischen Wirtschaft sah der Wirtschaftsattaché in der sehr hohen Arbeitslosigkeit: Momentan liegt diese bei 19%! Die Gründe für diese hohe Zahl sind vielfältig. Zum Einen drängt die Generation der „Baby-Boomer“ verstärkt auf den Arbeitsmarkt. Diesem erhöhten Arbeitskräfteangebot steht eine geringere Nachfrage gegenüber, insbesondere in den „traditionellen“ Sektoren, wie etwa der polnischen Stahlindustrie. Zum Anderen ist der polnische Arbeitsmarkt, wie jeder andere europäische Arbeitsmarkt, von den wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung getroffen, was zu erheblichem „downsizing“ und Standortverschiebungen polnischer Unternehmen führt.

Positiv und als erfolgreich bewertete Dr. Quelle hingegen die Privatisierung der Industrie insgesamt. Nicht nur die sinkende Zahl von Betrieben in staatlicher Hand, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit polnischer Unternehmen lassen ihn davon ausgehen, dass die polnische Wirtschaft in der Lage ist, sich auf dem gemeinsamen EU-Binnenmarkt zu behaupten.

Eine besondere Bedeutung kommt seiner Meinung nach den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland zu. Einerseits stellt Polen, neben der Tschechischen Republik, das Hauptimportland für deutsche Waren und Güter dar, auf der anderen Seite wickelt unser östlicher Nachbar auch ein Drittel seines Außenhandels mit Deutschland ab. Dr. Quelle schätzte, dass sich rund 6000 deutsche Firmen in Polen niedergelassen haben. Damit ist Deutschland der größte ausländische Direktinvestor, wenn man die Anzahl der engagierten Firmen betrachtet.

Im Hinblick auf das Referendum äußerte sich Dr. Quelle auch zu den Bedenken auf polnischer Seite, besonders in Bezug auf die reformbedürftige Landwirtschaft. Dabei hielt er es für vermessen, von Polen als von einem auf Landwirtschaft basierenden Staat zu denken. Als Beleg dafür gab er an, dass lediglich 5% der Bevölkerung ihr Haupteinkommen aus der Landwirtschaft beziehen. Darüber hinaus sind nicht mehr als 16% der Bevölkerung in landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt. Die dringend benötigte Strukturreform des Agrarsektors hielt Dr. Quelle nur mit Hilfe der EU für durchführbar, andere Alternativen sah er nicht.

Freitag, 06. Juni, 10h-19h, private Wirtschaftshochschule Warschau; Planspiel „Europa neu gestalten“ des „Centrums für angewandte Politikwissenschaft“ der Universität München

In der Diskussion über den Erweiterungsprozess der Europäischen Union muss zum Verständnis der Probleme der Blick auch auf die Institutionen der EU selbst gerichtet werden. Da das Zusammenspiel der verschiedenen Entscheidungsebenen in der EU recht komplex ist und die Vermittlung von Wissen zu diesem Thema recht ermüdend sein kann, suchten die Organisatoren nach einer Möglichkeit, Wissenslücken auf spannende und zugleich lehrreiche Art und Weise zu schließen. Das Planspiel „Europa neu gestalten“ schien uns hierfür gut geeignet.

Es nahmen 23 Personen an dem Planspiel teil, wobei die einzelnen Gremien wie folgt besetzt waren:

  • 6 Abgeordnete im Parlament: je 2 Abgeordnete von CDU, New Labour, Österreichische Grüne
  • 8 Mitglieder des Europäischen Rates: je 1 Vertreter aus Dänemark, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Großbritannien, Griechenland, Österreich
  • 4 Beitrittskandidaten: je 1 Abgesandter aus Polen, Zypern, der Türkei, Ungarn
  • 2 Medienvertreter
  • 2 Kommissionsmitglieder
  • 2 Personen als Spielleitung

Entscheidungshilfen für die Teilnehmer boten Datensätze, Statistiken und allgemeine Informationen zu den Institutionen der EU. Daneben wurde jedem Spieler ein Rollenprofil, das spezifische strategische Anweisungen enthielt, zugewiesen.
Da das Ziel eines Planspiels darin besteht, selbst in die Rolle einer Institution zu schlüpfen und sich in dieser Rolle nach der jeweiligen persönlichen Problemwahrnehmung und dem Vermögen zu entwickeln, weicht das Spielergebnis immer auch ein wenig von der Wirklichkeit ab. Nachfolgend sollen die Ergebnisse der Abschlussdiskussion präsentiert werden.
Es wurde lediglich der sofortige Beitritt von Ungarn und Zypern befürwortet. Polen und die Türkei wurden auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. Begründet wurde diese Entscheidung von den Teilnehmern mit der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung dieser beiden Länder. Für die Türkei wurde zudem als Argument für eine Ablehnung vorgebracht, dass die Menschenrechtspolitik nicht konform zur Europäischen Menschenrechtskonvention sei.

Die Brisanz des Spielergebnisses liegt natürlich darin, dass Polen die Aufnahme in die EU zum angestrebtem Zeitpunkt 2004 verweigert wurde. In der Betrachtung der Ursachen dieser Entscheidung zeigte sich, dass der Vertreter Polens (ein dt. Teilnehmer) wenig Überzeugskraft besaß, das legitime Interesse Polens an einer EU-Mitgliedschaft im Ministerrat zu vertreten. Zudem gelang es einigen Ministerratsmitgliedern, die Verhandlungsposition Deutschlands und Österreichs zu schwächen. Somit konnten sich diese beiden Fürsprecher eines raschen polnischen Beitritts nicht durchsetzen. Erschwert wurden die Verhandlungen durch die Parallelität verschiedener Sprachen. Da man sich vor dem Planspiel auf die gemeinsame Sprache Deutsch geeinigt hatte, fiel es manchen polnischen Teilnehmern schwer, ihrer Argumentation genügend Gewicht beizumessen – auch weil häufig die dazu nötigen Vokabeln fehlten. Dieses Spielergebnis sorgte für Verwunderung und wurde von einigen der polnischen Studenten sogar mit Missverständnis aufgenommen. Gleichwohl räumte die polnische Seite ein, dass allein auf der Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung diese Entscheidung folgerichtig erscheint – allerdings nur, wenn man die EU lediglich als Wirtschaftsgemeinschaft begreift. Da aber die Europäische Union mehr ist als nur ein Zusammenschluss wirtschaftlich leistungsfähiger Staaten, wurde an der Entscheidung des Ministerrates kritisiert, dass sie zu wenig auf die politische Signalwirkung der Entscheidung nach Außen geachtet wurde, geostrategische Faktoren nicht ausreichend in Erwägung gezogen wurden und das wirtschaftliche Entwicklungspotenzial von 40 Millionen Konsumenten ungenügend gewichtet wurde. Einhellig wurde von den Vertretern der Beitrittskandidaten festgestellt, dass sie ihre Position wie eine Bittstellerrolle empfanden. Zudem beschrieben sie ihr Verhältnis untereinander als von starker Konkurrenz geprägt. In der Auswertung stellten sie fest, dass die Möglichkeit sich mit den anderen Beitrittsstaaten abzustimmen und in wichtigen Fragen gemeinsame Positionen zu entwickeln, zu wenig genutzt hätten.

Die Vertreter des Europäischen Parlamentes beklagten vor allem die mangelnde Einbindung in den Diskussionsprozess im Ministerrat sowie den fehlenden Einfluss auf wichtige Entscheidungen. Die Pressevertreter stellten bei der Abschlussdiskussion fest, dass sie einen großen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Herstellung von Transparenz und als Mittler zwischen den Institutionen untereinander und der Öffentlichkeit hatten. Insbesondere für das Parlament lieferten sie entscheidungsrelevante Informationen und gaben Einblicke in den Diskussionsfortschritt im Ministerrat. Der Weg der Wissensvermittlung durch ein Planspiel fand unter den Teilnehmern großen Anklang. Von polnischer Seite wurde der Wunsch geäußert, selbst ein Planspiel in naher Zukunft zu organisieren. Kritisiert wurde hingegen, dass zu wenig Zeit und Raum für die volle Entwicklung der jeweiligen Rolle zur Verfügung stand. Viele Teilnehmer wünschten sich eine längere Einarbeitungsphase sowie mehr Material mit tiefergehenden Informationen. Hinsichtlich der gemeinsamen Sprache wurde die Bitte geäußert, vorher wichtige politische Vokabeln, die sich für die Diskussion als notwendig erweisen, zur Verfügung zu stellen.

Samstag, 07. Juni, 10h30; Führung durch die Altstadt

Den Auftakt zu unserer Führung durch die Warschauer Altstadt, die eine polnische Teilnehmerin durchführte, bildete die Besichtigung des Königsschlosses, eines der bedeutendsten Symbole des polnischen Staates. In vielen dort ausgestellten Gemälden und Kunstobjekten ist die Geschichte Polens und Warschaus anschaulich nachzuvollziehen. Eine kleine Gruppe von Musikern, die in einem der Säle des Schlosses klassische Stücke spielte, vertiefte den Eindruck vom Eintauchen in die Geschichte, der uns während der gesamten Führung begleitete.

Auf dem Platz vor dem Schloss fand ein Festival statt. Die auftretenden Künstler und Musiker zogen uns für einige Zeit in ihren Bann, bevor wir zu einem Rundgang durch die Altstadt aufbrachen.

Das historische Zentrum wie auch das Schloss von Warschau wurde während des zweiten Weltkriegs von den deutschen Truppen zerstört. Nach dem Krieg wurde die Warschauer Altstadt komplett wieder aufgebaut – so originalgetreu wie möglich. Im Zentrum der Altstadt befindet sich der mittelalterliche Marktplatz, der mit rekonstruierten Patrizierhäusern im Stil der Renaissance und des Barock umgeben ist. Südlich des Marktplatzes stehen die Reste der mittelalterlichen Stadtmauer aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Heute ist das historische Zentrum von Warschau die jüngste Altstadt Europas. Die UNESCO erklärte die rekonstruierten historischen Bauten der Altstadt zum Weltkulturerbe der Menschheit. Den Abschluss des Altstadtrundgangs bildete ein Besuch bei Warschaus bester Eisdiele. Die leckere Abkühlung war ein schöner Abschluss für einen interessanten, wissenserweiternden Spaziergang.

Samstag, 07. Juni, 20h, Wiese an der Altstadtmauer; Gespräch mit Steffen Möller, Kabarettist

Einige Wochen vor der Reise nach Warschau waren in der Johannes B. Kerner-Show drei Gäste eingeladen. Zumindest der Erste, Musikproduzent Ralph Siegel, ist dem deutschen Publikum wohl bekannt. Bevor dann aber der etwas weniger prominente „Privatsekretär“ von Schlagergröße Rex Gildo Platz nehmen durfte, gesellte sich Steffen Möller zu der Runde. Der Kabarettist, der in der deutschen Fernsehlandschaft bisher nur durch einen Auftritt in der Harald-Schmidt-Show in Erscheinung getreten war, war dem kompetenten Zuschauer bis dato nur vage bekannt.

Umso erfreulicher war es, Steffen Möller persönlich vor den Kulissen der Warschauer Altstadt zu begegnen. Er lebt seit acht Jahren in Polen. Der studierte Theologe und Philosoph ist in Polen ein richtiger Star, was man daran sehen konnte, dass unser Gespräch mehrmals durch Autogrammwünsche von Passanten unterbrochen wurde. Vor allem seine Rolle in einer Seifenoper hat zu seinem rasanten Aufstieg in der polnischen Unterhaltungsbranche beigetragen. Er tritt jedoch auch mit einem Kabarettprogramm auf und hat eine eigene Radioshow, in der er EU- relevante Themen anspricht und somit versucht, Ängste und Vorbehalte abzubauen.

Im Laufe der Unterhaltung wurde aber deutlich, dass sich der, von der F.A.Z. als „Unterhaltungs-Gastarbeiter“ bezeichnete, gebürtige Wuppertaler selbst nicht als Kulturbotschafter Deutschlands oder als Garant deutsch-polnischer Versöhnung sieht. Vielmehr basiert sein Erfolg auf genauen Beobachtungen des polnischen Alltags und deren kabarettistischer Aufarbeitung. Er betonte uns gegenüber, dass Stereotypen, deutsche wie polnische, nicht Hauptinhalt seiner Auftritte sind. Und trotzdem kann er sich diesem „Schubladendenken“ als Deutscher im Ausland nicht entziehen. Immer wieder stößt man auf Vorurteile und Klischees.

Sonntag, 08. Juni, 20h, Hof des Museums für moderne Kunst; Party der Robert-Schumann-Stiftung

Am Sonntag Abend war es dann endlich soweit. Die ersten Hochrechnungen ließen auf eine höhere Wahlbeteiligung als am vorherigen Tag, wo sie bei nur rund 17% lagen, hoffen. Unter dieser Prämisse fanden wir uns zu einer Referendumsabschluss-Party der Robert-Schumann-Stiftung ein. Diese Stiftung engagiert sich stark für die Verbreitung des europäischen Gedankens in Polen und hat maßgeblich an der Kampagne für den EU-Beitritt mitgewirkt.

Eine erste Überraschung ergab sich für uns schon beim Betreten des Geländes, wiesen doch die Sicherheitsmaßnahmen auf die Teilnahme prominenter Gäste hin. Neben dem Staatspräsidenten Alexander Kwasniewski und seiner bei den Polen sehr beliebten Gattin Jolanta sollten an diesem Abend auch noch die Europaministerin Donata Hübner, sowie mehrere hochrangige Personen des öffentlichen Lebens und der Schauspielerei auf der Bühne erscheinen.

Nachdem wir uns durch den überfüllten Saal gekämpft und Anfeindungen bei der Getränkeausgabe erfolgreich überstanden hatten, fiel uns sofort die ausgelassene, nahezu volksfestartige Stimmung auf. Als der Staatspräsident ans Mikrofon trat, um eine Rede zu halten, wurde ganz besonders deutlich, welche Bedeutung dieser Tag in der Geschichte Polens hatte. Ernste und ausgelassene Elemente wechselten sich ab in seiner Ansprache: teilweise spornte Kwasniewski die ohnehin schon elektrisierte Menge mit Sprechchören an. Es wurde aber auch eine Schweigeminute für die Opfer des kommunistischen Regimes gehalten und deren symbolische Bedeutung als Wegbereiter für den Eintritt Polens in die EU wurde unterstrichen. Kurz darauf wurde jedoch wieder zum fröhlichen Teil der Party übergegangen. Besonders beeindruckte auch der Auftritt von Tadeusz Mazowiecki, dem ersten Staatspräsidenten nach der Wende 1990, der fast frenetisch vom Publikum gefeiert wurde. Die Stimmung stieg mit jeder Prognose weit über die Wahlbeteiligung. Selbst nach Mitternacht wurde noch ausgelassen getanzt.

Montag, 09. Juni, 10h; Führung durch die Ausstellung des Jüdischen Instituts, das Gelände des ehemaligen Warschauer Ghettos und über den jüdischen Friedhof

Ein österreichischer Freiwilliger, der im Archiv des Jüdischen Instituts arbeitete, erklärte sich bereit, uns durch die Ausstellung des Instituts, das ehemalige jüdische Ghetto sowie über den jüdischen Friedhof zu führen.

Das Gebäude des Jüdischen Instituts wurde 1928 erbaut und war bis 1936 eine Synagoge. Heute befindet sich darin eine Ausstellung zum Warschauer Ghetto und ein Archiv zur Aufarbeitung der Geschichte der Juden in Warschau. Vor dem Zweiten Weltkrieg war in der polnischen Hauptstadt die größte jüdische Gemeinde Europas ansässig. Von den 1,3 Mio. Einwohnern Warschaus waren ein Viertel Juden. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im September 1939 wurde Warschau in einen deutschen, einen polnischen und einen jüdischen Distrikt aufgeteilt. Im November 1940 wurde das Ghetto auf dem Gebiet des letzteren Teils eingerichtet. Auf engstem Raum waren hier zeitweilig 400.000 Menschen eingepfercht, bevor sie zur Ermordung in die Konzentrationslager verschickt wurden.

Die Ausstellung dokumentiert in eindrucksvollen Fotos, Originalplakaten und einem Dokumentarfilm das Leben im Ghetto, dass durch Hunger, Krankheit und Tod gekennzeichnet war. Da Warschau im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört wurde, blieben auch vom Ghetto nur ein paar Mauerreste. Zwischen Wohnblöcken sozialistischer Prägung führt durch das Gebiet heute ein Gedenkpfad mit Monumenten an einigen herausragenden Orten. Neben dem berühmten Denkmal für den Aufstand vom April 1943, an dem Willi Brandt seinen berühmten Kniefall machte, gibt es Gedenksteine an der Stelle des Bunkers der Führer der Aufständischen oder am Umschlagplatz, von wo aus die Juden deportiert wurden. Noch recht gut erhalten ist der jüdische Friedhof, durch dessen Grabinschriften die ehemalige jüdische Bevölkerung einen Namen bekommt.

Insgesamt erstaunte uns, dass die Ausstellung doch recht klein und nicht sehr umfangreich war, sie bestand nur aus einem Raum, und dass die Denkmäler an der Gedenkroute, bis auf das zentrale Monument im sozialistischen Stil, sich unauffällig in das Stadtbild fügten. Wir sind aus Deutschland eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema gewöhnt, während in Polen eine Aufarbeitung der polnisch-jüdischen Beziehungen in der Vergangenheit nur zögerlich und erst seit kurzem statt findet.

Montag, 09. Juni, 15h, Restaurant in der Warschauer Innenstadt;Gespräch mit Krzysztof Nowaczek, Direktor des regionalen EU-Informationszentrums Lublin

Die polnische Regierung hat zur Aufklärung der polnischen Bürger über die EU erhebliche finanzielle Investitionen getätigt und unter anderem auch 36 regionale Informationszentren errichtet. Diese sind über das ganze Land verteilt und haben vor allem auf lokaler Ebene und in den ländlichen Gegenden Polens die Aufgabe, Vorbehalte und Befürchtungen gegenüber der EU abzubauen. Die Arbeit dieser Informationszentren basiert hauptsächlich auf freiwilligem Engagement.

Im Zuge unseres Aufenthaltes in Warschau hatten wir die Möglichkeit, den Direktor des Informationszentrum in der Region um Lublin, Krzysztof Nowaczek, zu treffen. Er stellte uns die Arbeit des Lubliner Büros und die Kampagne der polnischen Regierung zur Vorbereitung des Referendums vor. Nach seiner Einschätzung handelte es sich bei dem Referendum um eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte Polens. Zur Veranschaulichung der gegensätzlichen Positionen in Bezug auf den EU-Beitritt hatte er Informationsmaterial, sowohl von staatlicher Seite als auch von Parteien, kirchlichen Vereinigungen und zivilgesellschaftlichen Gruppen mitgebracht. Diese Broschüren und Flugblätter spiegelten die Emotionen der verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Gruppe in der Frage um einen EU-Beitritt wider.

Die ursprüngliche Strategie, die das Informationszentrum in Lublin verfolgte, nämlich Aufklärung über die Institutionen der EU und ihre Funktionen zu leisten, musste schnell wieder revidiert geben. Als besonders problematisch erwies sich das politische Desinteresse und defizitäre Wissen über politische Partizipationsmöglichkeiten in der Bevölkerung. Die Kampagne des Informationszentrums konzentrierte sich daher auf vier Gruppen: Schüler, Soldaten, Bauern und Studenten. Insgesamt wurde dabei nach dem folgenden Schema verfahren: Nach einer kurzen Einführung wurde auf die Geschichte der EU eingegangen. Darauf folgten, insbesondere für den landwirtschaftlichen Bereich, Vorträge von „Spezialisten“, die insbesondere den Bauern vermitteln sollten, dass eine Reform notwendig und mit Hilfe der EU leichter durchführbar ist. Eines der Hauptziele war, nicht nur materielles Wissen zu vermitteln und konkrete Vorteile für die einzelnen Gruppen aufzuzeigen, sondern die Menschen auch dazu zu bewegen, überhaupt zur Abstimmung zu gehen. Dabei wies Nowaczek dem Papst eine wichtige Rolle zu, hatte dieser doch unlängst zur Integration Polens in Europa aufgerufen. Insgesamt waren die Ausführungen des Leiters des Lubliner EU-Informationsbüros sehr bereichernd und spannend für uns, stellte er doch die Situation in einer der strukturschwächsten und EU-skeptischsten Regionen in Polen dar.